Felix von der Osten

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Focus Magazin Nr.28 : Flutkatastrophe im Ahrtal – Sebastian Tetzlaff

“Es gibt kein Haus mehr. Also auch keine Klingel. Nur eine Nummer. Eine große 37 aus Metall klebt notdürftig an einem Holzpfahl. Der einzige Gegenstand aus dem Haus, der sich noch am selben Ort wie vor dem Unglück befindet. Dahinter kommt lange nichts, nur eine ödbraune Fläche. Hier wohnte Sebastian Tetzlaff – und hier will er wieder wohnen. Etwa 300 Meter von der Ahr entfernt.”

“Vor einem Jahr verwüsteten Wassermassen das Ahrtal, töteten mehr als hundert Menschen, zerstörten Existenzen. Viele Betroffene leben noch immer in Wohnwagen, ringen mit dem Trauma dieser Nacht. Ein Besuch bei Menschen, die dennoch um ihre Heimat kämpfen”

“Seit fast einem Jahr lebt er jetzt schon mit seinen zwei Hunden Leika und Flip in einem Wohnwagen. Drinnen ist es überraschend wohnlich. Hier steht alles, was Tetzlaff vor dem Hochwasser retten konnte: ein selbst gebauter Tisch, vier Stühle, eine Garderobe, zwei Mülleimer und seine geliebte DeLonghi-Kaffeemaschine. Er holt Tassen aus dem Regal, das Mahlwerk übertönt ihn kurz. „Wenn ich dieses Geräusch höre und die Kaffeebohnen rieche, habe ich das Gefühl, wieder in meiner Küche zu sitzen“, sagt er. Für diesen einen Moment ist alles wie früher.”

“Dabei erscheint früher wie aus einer anderen Zeitrechnung. Vor dem 14. Juli 2021. An diesem Abend, um kurz nach 19 Uhr, überschritt die Ahr den historischen Höchstwert von 3,71 Meter am Pegel in Altenahr. Um 20.45 Uhr war der Wasserstand bereits bei 5,75 Meter. Kurz darauf überspülte die Flut das Messgerät. Erst nach 23 Uhr wurde der Katastrophenalarm ausgerufen. Die Hochwasserzentrale schätzte den Anstieg später auf rund sieben Meter. 3,2 Millionen Liter Wasser wurden nach der Flut aus dem Ahrtal gepumpt.”

“Es war eine Nacht, die in die Geschichte der Bundesrepublik einging. 135 Menschen starben. Sie ertranken in ihren eigenen Wohnzimmern, sie ertranken, als sie noch ihr Hab und Gut aus dem Keller holen wollten, sie ertranken in ihren Betten oder wurden mitgerissen in schlammiges Nichts bei dem Versuch, andere zu retten, noch Freunde zu erreichen. Sie ertranken, weil sie niemand gewarnt hatte. Klar, weil Behörden und wer auch immer versagte, Daten unterschätzt und Informationen nicht weitergegeben wurden. Am Ende starben sie, weil in Deutschland niemand auf echte Katastrophen vorbereitet zu sein scheint. Niemand hätte sich diese Bilder ausmalen können, die man nur aus Ländern wie Thailand" kennt, wo Tsunamis ganze Städte wegreißen. Die Menschen in und um das Ahrtal zahlten den Preis, zahlen ihn noch immer. Jeden Tag.”